Netta tritt auf (Romankapitel)

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Zu meinem fünfundvierzigsten Geburtstag schickte mein Vater mir ein Ölbild, das er vermutlich in einem Trödel- oder Antiquitätenladen aufgetrieben hatte. Ich liebte das Bild vom ersten Moment an und hängte es im Wohnzimmer meiner winzigen Wohnung auf, obwohl es ein sehr ungewöhnliches Format hatte; ich musste das ganze Mobiliar umstellen. (Mittlerweile bin ich umgezogen und das Bild hat einen besseren Platz.)

Als ich fast zehn Jahre später den Nachlass meines Vaters ordnete, fand ich eine erstaunliche Menge von Bußgeldbescheiden. Einmal hatte man ihm den Führerschein für ein Vierteljahr abgenommen, aber kurz darauf fiel er schon wieder wegen zu schnellen Fahrens auf. Ich war verblüfft und etwas beschämt; diese Sammlung von Knöllchen offenbarte eine Seite an ihm, die ich nicht kannte. Ich stellte mir vor, wie er mit hundertzwanzig Sachen in ein schläfriges Allgäudörfchen hineinrauschte, um zur Eröffnung des Flohmarkts zur Stelle zu sein. »Das musste ich doch! Sonst hätte womöglich jemand anders das Bild vor mir weggeschnappt!«

Das Bild ist fast doppelt so breit wie hoch, etwa einszehn auf sechzig, und zeigt einen Ritter zu Pferde am Rand einer Schlucht. Er trägt eine schwarze Rüstung, wendet dem Betrachter den Rücken zu und schaut über die Schlucht hinweg zu einer Burg auf der anderen Seite. Es ist Abend, der Ritter steht schon im Schatten, aber die Burg wird von einem letzten Sonnenstrahl beleuchtet.

Das Pferd lässt den Kopf hängen, offensichtlich ermüdet von einer ganzen Tagesreise, aber der Ritter hält sich aufrecht, mit durchgedrückten Knien. So wie in Wirklichkeit kein Mensch zu Pferd sitzt.

Ich habe keine Ahnung, warum mein Vater mir dieses Bild schenkte. Wahrscheinlich hat Onkel Philipp es für mich ausgesucht. Mein Vater hatte diese Art von Humor nicht, und er war auch nicht der Typ, der Flohmärkte besuchte – das ist reine Phantasie meinerseits.
Als ich sieben war, hatte ich ein Kinderbuch über eine Ritterburg. Das Buch gehörte zu jenen Jugenderinnerungen, die ich retten wollte, als ich mit einem Haufen leerer Umzugskartons zum Haus meines Vaters fuhr; aber es war ebenso unauffindbar wie alle meine anderen Kinderbücher. Das hat vermutlich sein Gutes. Nichts beeinträchtigt meine persönliche Erinnerung an jene Ritterburg. Sie lag auf einem Berggipfel. Ein Trampelpfad führte hinauf, in unmotivierten Schlangenlinien, wie Wege in Kinderbüchern das meistens tun. Auf einem Bild war ein Ritter mit hohem Helm zu sehen, der eben durch das Burgtor ritt. Der Ritter war so groß, dass er sich um ein Haar den hohen Helm am Torbogen zerdepperte.

Als ich abends in meinem Kinderbett über dieses Bild nachdachte, trat die Helmausbeulerin in mein Leben. Sie hieß Plongtraud, hatte einen dicken blonden Zopf und kräftige Arme, mit denen sie den Hammer handhabte. Sie wohnte gleich hinter dem Torbogen und brachte jeden zerbeulten Helm rasch wieder in Ordnung. Jeder reisende Ritter trat, dank Plongtrauds Hilfe, mit tadellosem, blitzblank poliertem Helm vor den Burgherrn. Plongtraud konnte auch Heilsalben mischen, für den Fall, dass mit dem Helm auch der ritterliche Kopf eingedellt war.

Als ein Jahr später meine Mutter an einem Schlaganfall starb, verwandelte sich Plongtraud in eine andere Gestalt. Sie wurde kleiner und dünner, gebrauchte nadelscharfe Dolche statt des Hammers und trug einen schwarzen Raspelschnitt. Sie beulte auch keine Helme mehr aus, sondern machte Jagd auf Ratten. Den Namen Plongtraud, der nicht mehr zu ihr passte, legte sie ab und wurde Zojka. Zojka schnitt jeder Ratte, die sie erlegt hatte, den Schwanz ab und fädelte die Schwänze auf Leinenschnüre, immer hundert Schwänze auf einmal. Pro Schnur bekam sie vom Diener des Burgherrn ein Silberstück. Manchmal schummelte sie und fädelte nur neunzig Schwänze auf statt hundert. Der Diener machte sich meistens nicht die Mühe, alle Rattenschwänze genau nachzuzählen.

Später endete die Rattenjagd, und aus Zojka wurde Fatrada. Sie wohnte jetzt nicht mehr hinter dem Torbogen, sondern in der Nähe der Ställe, denn ihre Spezialität war es, Pferde zu bändigen. Sie ritt ohne Sattel und Zaum und konnte jedes störrische Pferd durch Kraft und Liebe zur Raison bringen, besser als alle ritterlichen Knappen. Fatrada war beinahe zwei Meter groß und hatte einen straffen dunklen Zopf wie Lara Croft. Sie trug nie einen Helm. Wenn sie im Galopp durch den Torbogen ritt, beugte sie sich tief über den Hals des Pferdes, um nicht heruntergefegt zu werden. Fatrada wurde geboren, als ich etwa zwölf war.

Zwei Jahre später kam dann Netta und blieb für immer.


*

Wenn ich damals eine Geburtstagstorte haben wollte, musste ich sie selbst backen, denn meine Mutter war gestorben und Onkel Philipps Haushälterin konnte nur Blechkuchen mit Äpfeln oder Pflaumen, dick mit Zimtzucker bestreut. Ich war vierzehn und wollte eine Sahnetorte mit Schokobiskuit und Kirschen haben. Der Biskuit war eine Herausforderung, weil ich Eiweiß und Eigelb getrennt rühren musste. In einer Zeitschrift hatte ich ein Bild einer jungen Frau gesehen, die keine Arme hatte. Sie hielt die Eihälften mit den Zehen und brachte es fertig, Eigelb und Eiweiß sauber zu trennen. Das beeindruckte mich tief.

Mit diesem Bild vor Augen produzierte ich einen perfekten Eischnee, der so fest war, dass er sich nicht bewegte, als ich die Rührschüssel probeweise umdrehte.

Mein Biskuitboden wurde hoch und glatt wie aus dem Bilderbuch. Ich musste ihn in drei Schichten schneiden und wagte nicht, ihm mit dem Messer zu Leibe zu rücken. Vielleicht habe ich in einem Kochbuch gelesen, wie man es macht; ich weiß es nicht mehr. Ich holte aus dem Nähkorb meiner Mutter einen Zwirnfaden, legte ihn einmal um den Boden herum, vorne über Kreuz, und zog die Schlinge langsam und gleichmäßig zu. Das Wort »Garotte« kam mir in den Sinn. Vielleicht hatte ich kurz zuvor etwas über die Mafia gelesen. Ich las von jeher sehr undiszipliniert kreuz und quer; darunter vieles, was ich erst Jahre später verstand. Vermutlich war auch der »Pate« unter meiner Kindheitslektüre.

Diese seltsamen Mafiafrauen. Eine hatte ein derart ausgeweitetes Geschlechtsorgan (was ich damals irgendwie verstand, auf einem Weg, den ich bis heute nicht nachvollziehen kann), dass ihr Verlobter, ein Frauenarzt, es operativ für ihn passend machte. Eine zweite kam nie über ihr sizilianisches Dorf hinaus und starb in einem Bombenanschlag, der ihrem Bräutigam galt. Und eine dritte war hässlich und zu arm an Geist, ihren Ehemann, der soff, sie betrog und prügelte, aus dem Haus zu werfen. Das war das Garottenfrauenbild.

An diesem Tag, oder kurz darauf, trat Netta in mein Leben – mit ihrer Drahtschlinge, die lautlos tötet, und mit ihrem Schoßtier, das sie »Knipper« nennt. Knipper ist ungefähr so groß wie eine Grapefruit und ebenso rund und nackt, er hat weder Fell noch Schwanz noch Ohren, ist einfach nur glatt und rosa-grau gefleckt, mit einem breiten Maul voll nadelscharfer Zähne.

Er ist giftig, aber nicht immer ist sein Biss tödlich, oft bringt er auch nur einen langen Dämmerschlaf voller Alpträume. Wenn ich manchmal tagelang nicht aus dem Bett komme, das simple Aufstehen und Anziehen zu einer unlösbaren Aufgabe wird, die langen Stunden versickern mit einem gummiartigen Tropf-Tropf, wenn meine Beine sich von selbst losreißen und davongehen, als gehörten sie nicht mehr mir, dann hat mich der Knipper gebissen. Es gibt kein Gegenmittel, aber ich weiß, dass Knipper mich nicht tötet. Das würde er nie tun, er gehört ja zu mir. Ich muss nur abwarten, bis meine Beine zurückkehren, der Kopf sich aus dem Kissen hebt, das Leben wieder beginnt.

Knippers Biss ist gut für mich. Er macht mich immun gegen andere Gifte.

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